Trotz Missbrauch ohne Bitterkeit leben?
Das erste Mädchenheim für Sozialwaisen, das ich in meinem Leben betrat, war das in Cochabamba (Bolivien). Ich hatte keine Ahnung, was mich da erwarten würde. Ich wusste nur, dass hier Mädchen wohnten, die Unvorstellbares durchgemacht hatten: Missbrauch, Betrug, Hungersnot, Zwangsarbeit, Vergewaltigungen und vielleicht sogar Kinderprostitution.
Wie wirkt sich so etwas auf das Verhalten von Kindern aus? Würden sie sich verängstigt zurückkauern oder eher kämpferisch auftreten? Würden sie um Aufmerksamkeit werben oder sich eher unsichtbar machen? Sehnen sie sich nach menschlichem Kontakt oder gerade nach Abstand und Distanz?
Lachen, das überrascht
Auf das, was mir beim Betreten des Heims begegnete, war ich jedoch in keinster Weise vorbereitet: kichernde und herumalbernde Mädchen, wie man sie auch in irgendeinem anderen Kontext vorfinden würde.
Auch heute, wo ich für ein Kinderheim arbeite, staune ich immer wieder darüber, wie sich die Kinder trotz ihrer traumatischen Erlebnisse verhalten. Natürlich ist das nur die äußere Fassade eines viel komplizierteren Prozesses. Ich, der ich ja „nur“ ihr Musiklehrer bin, kann nicht erahnen, wie es in ihrem Inneren aussieht und was sie noch alles zu bewältigen haben.
Aber auch wenn meine Beobachtungen nur einen kleinen Teil der Realität wiedergeben, machen sie doch deutlich, dass eine schwere Vergangenheit nicht unbedingt zu einem Leben in Zorn und Bitterkeit führen muss – auch wenn dies „gerechtfertigt” erscheint.
Vergebung befreit
Was Vergebung nun genau ist und wie man sie lebt – das ist ein anderes, viel schwierigeres Thema, über das ich nicht viel zu sagen wage. Aber dazu gehört jedenfalls, dass man sich selber befreit von der Macht, die andere Menschen über die eigene Lebensfreude ausüben. Und wie das aussehen kann, zeigen mir die Kinder, mit denen ich arbeite. Wer regelmäßig meine Beiträge liest, weiß auch schon, dass ich mich hier in einer Schule sehe, in der Gott mir Kinder als Lehrer gegeben hat.